Gedenken - Erinnern

GEDENKVERANSTALTUNG FÜR DIE OPFER DER ENDPHASEVERBRECHEN
IN KASSEL, 31.03.2025
REDE VON OBERBÜRGERMEISTER
DR. SVEN SCHOELLER
Bilder von Krieg, Zerstörung und Tod - auch aus Europa- müssen wir leider wieder täglich in den Nachrichten sehen – und wir sehen das Leid der betroffenen Menschen.
Dabei ist gerade einmal ein langes Menschenleben her, dass wir uns auf unserem Kontinent versprochen hatten: „Nie wieder!“
Wie könnten und wie dürften wir vergessen, wie grausam, unmenschlich und brutal der Zweite Weltkrieg war, der von deutschem Boden ausging, wie erbarmungslos und fanatisch das NS-Regime.
Vor 80 Jahren, inmitten der Auflösungserscheinungen des Staates trat die Grausamkeit und Willkür des Terror-Regimes nicht nur in Konzentrationslagern und Zwangsarbeiterlagern, sondern vor der „Haustüre der Gesellschaft“ offen zutage – wie es der israelische Historiker Daniel Blatmann beschreibt. So sind es besonders dunkle Tage in der Geschichte unserer Stadt, die für die Schrecken der letzten Tage vor der Befreiung von diesem Unrechts-Regime stehen.
Das Ende des Krieges für Kassel war nicht mehr weit. Die amerikanischen Truppen näherten sich den Toren der Stadt. Die militärische Niederlage war längst besiegelt. Es herrschten Verunsicherung und Chaos. Und in der durch die NS-Führung geschaffene allgemeinen Gewaltermächtigung eskalierte der Terror in jenen Tagen noch einmal ganz besonders. Überall im Land wurden so genannte Endphaseverbrechen begangen – auch in unserer Stadt und Region.
Gestern erinnerten wir in der Gedenkstätte Breitenau gemeinsam daran, dass in der Nacht vom 29. auf den 30. März 1945 28 Gefangene des Arbeitserziehungslagers Breitenau auf dem Fuldaberg erschossen wurden.
Ausgerechnet am höchsten christlichen Feiertag, am Karfreitag, und am Ostersamstag des Jahres 1945 wurden durch Nationalsozialisten die schlimmsten Verbrechen in Kassel verübt:
Am 30. März 1945 ließ die Gestapo zwölf Gefangene des Zuchthauses Wehlheiden ermorden. Nur einen Tag später wurden hier am Bahnhof Wilhelmshöhe -ebenso auf Gestapo-Befehl- 78 italienische Militärinternierte und ein sowjetischer Zwangsarbeiter exekutiert. All diese Menschen hatten mit dem Ende des Krieges auch das Ende ihres Martyriums vor Augen und wurden in den letzten Tagen der Unrechtsherrschaft zu Opfern des Nazi-Terrors.
Meine Damen und Herren,
diese Endphaseverbrechen in Nordhessen reihen sich ein in unzählige Massenmorde in der letzten Phase des Krieges. Es kam zu Gewaltexzessen an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, aber auch gegen sogenannte „verräterische Volksgenossen“, die nicht mehr an den Endsieg glauben wollten. Nach 1945 wurden etwa 410 Urteile zu den "Verbrechen der Endphase" gesprochen. Der Leiter der Gestapostelle, der die Endphaseverbrechen anordnete, verließ das Gefängnis nach weniger als zwei Jahren als freier Mann.
Wir wissen: Auch das war kein Einzelfall und ein unrühmliches Kapitel unserer Justizgeschichte. Der Historiker, Mitbegründer und langjährige Leiter der Gedenkstätte Breitenau, Dr. Gunnar Richter, hat diese Thematik wissenschaftlich erforscht und wird auf die Ereignisse um den Ostersamstag vor 80 Jahren gleich näher eingehen. Dass wir heute hier gemeinsam stehen und an das Verbrechen, an die Grausamkeit, das Unrecht und die Willkür erinnern, der gepeinigte und unter Hunger leidende Menschen zu Opfer fielen – das gehört zum besseren Teil unserer Geschichte.
Es ist die Geschichte von Versöhnung, von Völkerverständigung und Freundschaft zwischen Italien und Deutschland und eines zusammenwachsenden Europas. Die seit den 50er Jahren bestehende Städtepartnerschaft zwischen Florenz und Kassel gehört zu dieser Geschichte. Und auch die seit über 30 Jahren bestehenden vielfältigen Kontakte zwischen Kassel und Pescantina, die aus einer historischen Verantwortung heraus erwachsen sind. Gerne hätte ich heute Herrn Ciro Ferrari begrüßt, der sich für dieses Anliegen der Versöhnung und gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung seit vielen Jahren engagiert und verdient gemacht hat. Er musste aus familiären Gründen leider kurzfristig absagen.
Zu dieser jüngeren Geschichte gehört auch ein engagierter, aufgeschlossener und zu unseren engsten Freunden gehörender Teil unserer Stadtgesellschaft mit italienischen Wurzeln und dazu gehört das überaus aktive und verbindende Wirken der Deutsch-Italienischen Gesellschaft.
Wir haben zueinander gefunden in Europa – und dieser Zusammenhalt und diese Stärke, das wissen wir alle nur zu gut, sind heute wichtiger denn je. So stehen wir hier gemeinsam an einem Ort, der so viel Grauen gesehen hat, in der Mitte Europas, an einem Knotenpunkt, der so viele Orte und Regionen miteinander verbindet.
Hier reichen wir uns einmal mehr die Hände gegen das Vergessen, um uns unserer Freundschaft und europäischen Gemeinschaft zu versichern und an unser Versprechen zu erinnern: Nie wieder!
Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie an diesem wichtigen Tag heute gekommen sind.
Herzlichen Dank an Dr. Gunnar Richter für seinen nun folgenden geschichtlichen Vortrag.
Danken möchte ich an dieser Stelle auch unserer Volkshochschule Region Kassel, namentlich Gunnar Zamzow, für eine Veranstaltungsreihe zum Thema „Italien und Deutschland im Zweiten Weltkrieg“. Auch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach dem Ende des Terror- und Unrechtsregimes der Nationalsozialisten ist es wichtig, dass wir uns mit unserer Geschichte befassen, dass wir weiter forschen und aufarbeiten, dass wir erinnern und mahnen.
Damit wir Warnzeichen und gefährliche Entwicklungen erkennen und diesen entschieden etwas entgegensetzen können. Denn, und es ist mir wichtig, das zu sagen: Wir sehen und spüren, wie blinde Geschichtsvergessenheit und -leugnung immer mehr Raum in unserer Gesellschaft einnimmt. Wie ein fehlgeleitetes, reaktionär geprägtes Nationalbewusstsein sich vereinigt mit völkisch rassistischen Idealen und sich verbindet in einem fremdenfeindlichen, von Reinheitsphantasien getragenen Narrativ. Eine Geschichtserzählung, die Immigration zum universellen Sündenbock für vorhandene oder auch nur herbeigeredete Defizite der Gesellschaft macht.
Das rüttelt an den Grundfesten unseres auf der Achtung von Menschenwürde fundierten demokratischen Gemeinwesens in Deutschland – und in Europa.
Auch um dies nicht zuzulassen – stehen wir heute gemeinsam hier.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
